Kirche und Pietismus am Ende der Tage

Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten, zu einem unvergänglichen und unbefleckten und unverwelklichen Erbe, das aufbewahrt wird im Himmel für euch, die ihr aus Gottes Macht durch den Glauben bewahrt werdet zur Seligkeit, die bereit ist, dass sie offenbar werde zu der letzten Zeit. Dann werdet ihr euch freuen, die ihr jetzt eine kleine Zeit, wenn es sein soll, traurig seid in mancherlei Anfechtungen, damit euer Glaube als echt und viel kostbarer befunden werde als das vergängliche Gold, das durchs Feuer geläutert wird, zu Lob, Preis und Ehre, wenn offenbart wird Jesus Christus. (1. Petrus 1,3-7)

Aber die elf Jünger gingen nach Galiläa auf den Berg, wohin Jesus sie beschieden hatte. Und als sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige aber zweifelten. Und Jesus trat herzu und sprach zu ihnen: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende. (Matthäus 28, 16-20)


1. Das Fundament des deutschen Pietismus: Luther und die Reformation der Kirche

Das Fundament des Pietismus ist Luthers Reformation der Kirche und das reformatorische Leben, obwohl eine der Wurzeln des schwäbischen Pietismus schon ins späte Mittelalter zurückreicht. Das sind die »Brüder vom gemeinsamen Leben«, um 1470 (Thomas a Kempis, »Nachfolge Christi«). Obwohl das eine Wurzel des schwäbischen Pietismus ist, so hat doch erst Martin Luther mit der Reformation der Kirche das Fundament für den  gesamten deutschen Pietismus gelegt. Das Fundament – das, so hoffe ich, bleiben wird, bis der Herr wiederkommt –, diese unvergängliche Grundlage des Pietismus, will ich nur an zwei Lutherworten andeuten.

Luther sagt: »Es weiß, gottlob, ein Kind von sieben Jahren, was die Kirche sei, nämlich die heiligen Gläubigen und die Schäflein, die ihres Hirten Stimme hören.« Das sind also Heilige, im Unterschied zur römisch-katholischen Lehre von den Heiligen. Wer an Jesus glaubt, ist ein Heiliger. Luther kehrt zurück zum Neuen Testament: Sie hören die Stimme ihres Hirten. Das Hören in der Stille, das ist der Grundvorgang der Kirche. Und ihr könnt das, was ihr macht, nur machen, wenn ihr zuerst lernt, was »hören« heißt – in der Stille – als Fundament der Kirche. »Jesu Stimme hören«, nur hörbar in der Heiligen Schrift. Arbeitest du am Markus-Evangelium, in der Stille? Ein Anderes ist Luthers Wort aus dem Schmalkaldischen Artikel vom Januar 1538: »Dass Jesus Christus, unser Gott und Herr, ›um unserer Sünden willen gestorben und um unserer Gerechtigkeit willen auferstanden‹ sei (Röm 4,25), und er allein das Lamm Gottes ist, ›welches der Welt Sünde trägt‹ (Joh 1,29), und ›Gott unser aller Sünde auf ihn gelegt hat‹ … Von diesem Artikel kann man nicht weichen oder nachgeben, es falle Himmel und Erde oder was nicht bleiben will; denn es ›ist kein anderer Name den Menschen gegeben, dadurch wir können selig werden‹, spricht St. Petrus (Apg 4,12}. ›Und durch seine Wunden sind wir geheilt‹ (Jes 53,5). Und auf diesem Artikel steht alles, was wir wider den Papst, Teufel und Welt lehren und leben. Darum müssen wir dessen ganz gewiss sein und nicht zweifeln. Sonst ist’s alles verloren und behält Papst und Teufel und alles wider uns Sieg und Recht.«
Das Fundament ist die göttliche Sühnetat durch die Hingabe des einzigen Sohnes am Kreuz von Golgatha. Das ist die Mitte der Kirche, die Mitte jeder Predigt. Das »Wort vom Kreuz«, wie Paulus sagt, ist das unverrückbare Fundament von Kirche und Pietismus bis ans Ende der Tage. Darin ist der Pietismus gegründet, darin gründet auch die Kirche.
Aber Luther folgt bei der Ordnung der neuen Gemeinde leider einem Verfassungsgrundsatz, den im Jahr 381 n. Chr. der römische Kaiser Theodosius als neues Reichsbürgerrecht entworfen hat. Wer ist Bürger des Römischen Reiches? Die Antwort: der Getaufte, der volljährig ist. Mit diesem Augenblick wird das gesamte Judentum ausgeschlossen aus der abendländischen Kulturgemeinschaft bis 1806 – 1500 Jahre lang! Man hat in der damaligen Gesellschaft nur den Säugling getauft. Also ist der Säuglingsgetaufte, wenn er volljährig ist, der Wiedergeborene.
Darin liegt die Ursünde der Kirche bis heute, dass man sagt: »In der Säuglingstaufe geschieht der Akt der Wiedergeburt.« Das wird so dargelegt. In der Bibel heißt es: »Glaube und Taufe« und »Taufe und Glaube«. Es geht dabei nicht um die Frage: Säuglingstaufe oder Großtaufe? Das ist nicht die Frage, sondern es geht nur darum: Ist die Säuglingtaufe zugleich der Akt der Wiedergeburt? Dieses Reichsbürgerrecht galt im ganzen Mittelalter für die Reichskirche, die identisch war mit den Bürgern dieses Reiches. Reich und Kirche ineinander. Dieses Reichsbürgerrecht gilt nicht nur im Mittelalter. Das hat Luther in vollem Sinn übernommen und auf dieser Grundlage die Landeskirchen gegründet. Er hat die Fürsten zu Bischöfen gemacht, und wer in dem Gebiet dieses Landesfürsten getauft ist, als Säugling und Volljähriger, ist voller Christ und liebt diese Kirche.
Das hat Luther voll übernommen. Das hat bis heute die gesamte evangelische Kirche in Deutschland, einschließlich unserer Landeskirche, als reine Irrlehre übernommen. Luther selbst schwankt freilich immer wieder. Einmal sagt er: »Meint ihr, wir drängen die Jugend zum Abendmahl wie die Säue zum Trog?« »Nein«, sagt er, »das tun wir nicht, sie müssen zuerst den Katechismus lernen.« Damit hat er wenigstens das eingebaut; aber es ist nicht voll biblisch.
Der Akt der persönlichen Bekehrung, die Wiedergeburt des mündigen Menschen ist also nun ausgeblendet. Das ist das schwerwiegende Defizit der reformatorischen Kirche bis heute, auch in Württemberg. So wurden die Kirchen in ihrem Schwerpunkt von oben nach unten gebaut. Das ist bis heute so. Unsere Landeskirche besteht aus Pfarrämtern, aber das steht nirgends im Neuen Testament. Das Wort »Amt« kommt im Neuen Testament nicht vor. Luther übersetzte so das Wort diakonia leider mit »Amt«. Diese falsche Lehre hat nun drei Folgen, und hierin bestehen die Spannungen zwischen Kirche und Pietismus bis heute:

a) Wenn alle säuglingsgetauften Glieder der Landeskirche wiedergeboren sind, entsteht keine Bruderschaft. Was heißt denn Bruderschaft in der Gemeinde Jesu? Die Bruderschaft der ersten Geburt sind meine leiblichen Brüder und Schwestern in der Familie. Aber durch die zweite Geburt entsteht eine neue Familie, und dadurch entstehen neue Schwestern und Brüder. Das geht nun unter. Eine landeskirchliche Gemeinde ist nicht in sich Bruderschaft.

b) Man sagt, das Große, was durch die Reformation entstand, sei das Laienpriestertum. Dies hat Luther anders gemeint, nicht so, wie wir es heute meinen. Luther sieht auf der einen Seite den ordinierenden Pfarrer, zuständig für Gottesdienste, Sakramente, Taufe, Konfirmation, Trauung, Bestattung. Auf der anderen Seite ist der Laie. Aber der Laie ist bei Luther nur der Hauspriester, d.h. der Leiter der Hausandachten in der Familie. Er hat keinen öffentlichen Auftrag. Das ist nicht das biblische Laienpriestertum. Das Laienpriestertum kommt erst durch den Pietismus, zum Teil im Anschluss an die alttestamentliche Prophetie. (Diese Linie kann ich hier nicht aufzeigen.)

c) Die Volkskirche, die davon ausgeht, dass alle Säuglingsgetauften schon wiedergeboren sind, verkürzt, ja unterdrückt das biblische Zeugnis von Bekehrung und Wiedergeburt in ihrer öffentlichen Verkündigung.

2. Der deutsche Pietismus zwischen mystischem Separatismus und kirchlicher Orthodoxie

Diese drei Vorgänge führten in den reformatorischen Kirchen zu einer gewissen Erstarrung. Nach dem 30jährigen Krieg (1618-1648) – einem Glaubenskrieg zwischen katholischen Fürsten und den lutherischen Landesherren, einem reinen Glaubenskrieg (ein erschütternder Fluch über Deutschland!) – war diese erstarrte Kirche (das orthodoxe Luthertum) nicht mehr fähig, auf neue Fragen des 17. Jahrhunderts zu antworten. So entstanden in den reformatorischen Kirchen mystische Sekten. (»Mystisch« lehne ich nicht grundsätzlich ab. Es gibt eine biblische Mystik in unseren Kirchen, die weithin unbekannt ist.) Aber diese mystischen Gruppen wurden Sekten. So entstand ein Separatismus als Trennung von der Kirche. Die von der Orthodoxie weithin durch Zwang einheitliche Kirche zerfiel in zwei Gruppen (ca. 1640): in orthodoxe Lutheraner und mystische Sekten. Das sind nur die Voraussetzungen für das wichtigste Jahr des deutschen Pietismus: das Jahr 1675.

Damit kam eine neue Linie in die Kirche. Damals wollte Spener, der leitende Pastor Frankfurts, die ganze Kirche erneuern. Er wollte ursprünglich nichts mit dem Pietismus zu tun haben. Er wollte die gesamte Kirche erneuern. So ist seine Schrift »Pia Desideria « (1675) als ein umfassendes Programm gedacht, auch für das Theologiestudium (für alle Theologie-Studenten, nicht nur für Pietisten). Leider entstand daraus nur die Bewegung des Pietismus. Aber dieses Hauptanliegen des Pietismus für später müssen wir im Auge behalten: Es geht für den Pietismus um die ganze Kirche.

Ich nenne verschiedene Punkte aus Speners Schrift:

a) Christ wird man durch Taufe und Glaube. Der Pietismus sagt (statt Glaube) lieber »Wiedergeburt«. Es hat einen tiefen Grund, dass er nicht »Bekehrung« sagt, sondern »Wiedergeburt «.

b) Deshalb muss das ganze Volk die Bibel haben, auch arme Leute – deshalb müssen billige Bibel-Ausgaben gedruckt werden. Die Menschen müssen die Bibel selber studieren. Ich muss dazu was sagen: So entstehen unter dem Wirken des Pietismus Bibelanstalten mit dem Ziel, billige Bibeln herauszugeben; unsere württembergische Bibelanstalt besteht seit 1825.

c) In der verfassten Staatskirche sollen sich – das war das Anliegen später – Kreise bilden, in denen Brüder miteinander die Bibel lesen und darüber Austausch haben; das, was wir heute die »Stunde« nennen, entstand 1675, und zwar nicht als Ersatz für die Gottesdienste, sondern neben dem Gottesdienst – als Vertiefung. Diese »Stunden« dürfen also nie in der Zeit der in der Kirche stattfindenden Gottesdienste sein, nur danach. Solche »Stunden« mussten freilich staatskirchenrechtlich genehmigt werden. Es herrschte ja bis 1806 kein Versammlungsrecht. Und dann sind wir Schwaben an der Reihe. Als erster Staat, und als erste Landeskirche, genehmigt der Herzog Karl-Friedrich von Württemberg am 10. Oktober 1743 in einem Generalreskript: Die »Stunden« dürfen in seiner Landeskirche stattfinden: »Wir wollen durch die gegenwärtigen Vorschriften den begierigen Gemütern, welche neben den öffentlichen Kirchenversammlungen und eigenen Hausandachten noch einen ferneren, erbauenden Umgang mit christlich gesinnten Nachbarn oder Freunden innerhalb der erlaubten Zusammenkunft begehren – dieses an sich nicht verwerfliche, manchmal aber zu allerhand Missbräuchen ausschlaggebende Mittel –, also fassen, dass ihnen hierdurch weitere Gelegenheit dargereicht wird.« Das erste Restrikt zur Erlaubnis für »Stunden« in ganz Deutschland! Daran hat sich Johann Albrecht Bengel maßgeblich beteiligt, am 10. Oktober 1746. In der pfälzischen Landeskirche beispielsweise kam es erst im Jahr 1919 zu dieser Erlaubnis in der Kirche. Daher entstand in Württemberg der stärkste Pietismus von ganz Deutschland, und daher die enge Verbindung von Kirche und Pietismus. Dies dürfen wir der Kirche nie vergessen, dass das 1743 geschehen ist. Niemals!

3. Der deutsche Pietismus und die Aufklärung

Bis ca. 1600 hat sich in der europäischen Geistesgeschichte keine Aufklärung ereignet. Danach entstand jedoch eine tiefe Veränderung in der europäischen Geistesgeschichte – die Aufklärung in allen Völkern des Westens. »Aufklärung« heißt »Vorordnung, Herrschaft der menschlichen Vernunft auf allen Gebieten«. Ich möchte zunächst sagen: Die Vernunft darf nicht verdammt werden, wie es die Pfingstler tun. Paulus schreibt in Römer 12,2 von der »Erneuerung der Vernunft«. (Luther sagt: »Die Vernunft ist eine Hure.« Es kommt darauf an, mit wem deine Vernunft verheiratet ist! Sie soll mit Jesus verheiratet sein. Dann wird es eine richtige Vernunft.)

Ich muss zunächst fünf positive Dinge von der Vernunft sagen, da muss sich die Kirche schämen.

a) Wir verdanken der Aufklärung die Abschaffung der Hexenprozesse, bei denen zahllose unschuldige Mädchen und Frauen verbrannt worden waren.

b) Wir verdanken der Aufklärung die heutige Technik, die wissenschaftliche Produktion.

c) Wir verdanken der Aufklärung die Abschaffung der Folterungen bei den Verhören vor Gericht. Das hat nicht die Kirche abgeschafft – in der Kirche wurde gefoltert. Das ist eine Schande für die Kirche.

d) Wir verdanken der Aufklärung die moderne Demokratie. Sie kommt im wesentlichen nicht von der Bibel.

e) (Da müssen wir uns ganz tief schämen): Erst die Aufklärer haben die Juden befreit, die 1500 Jahre von der abendländischen Kulturgemeinschaft ausgeschlossen waren. Sie durften keinen Beruf ausüben, nur Berufe, die mit Geld zu tun hatten. Eine traurige Geschichte des Abendlandes! Da hat Luther voll mitgemacht – bei dieser Ausschließung des Judentums. Erst durch die Aufklärung in den deutschen Ländern ab 1806 wurde das abgeschafft.

Doch viel schwerer wiegt nun das Negative:

a) Durch die Aufklärung entsteht statt der biblischen Zukunftshoffnung der Fortschrittsglaube. 1968/1969 war in Deutschland, ja in der ganzen Welt »Fortschritt«. Welches Zauberwort heute! Bis 1734 kannte man dieses Wort so nicht in der deutschen Sprache. Aber nun kommt der Fortschritt an die Stelle der Zukunftshoffnung und damit die Bildung von Ersatzreligionen, die wir heute »Ideologie« nennen – bis hin zu Karl Marx und zum Liberalismus.

b) Dieser optimistische Fortschrittsglaube muss das biblische Zeugnis von Sünde und Gnade ablehnen. Es gibt keine Sünder. Der Mensch muss im Kern gut sein – wenn man Fortschritt will, muss er ja gut sein –, denn man kann nur das aus ihm herausholen, was drin ist; da kann keine Sünde sein, sonst gäb’s keinen Fortschritt. So wird die Botschaft von Sünde und Gnade zerstört. Die Erlösung von der Sünde am Kreuz ist erledigt. Das Kreuz wird – das können Sie in vielen Predigten hören – zum »Zeichen göttlicher Liebe«. Das Kreuz von Golgatha – nur ein Zeichen!
Damit ist der Kern der Bibel zerstört: Das Kreuz von Golgotha ist kein Zeichen, sondern ein Sieg. Am Kreuz hat ein Sieg stattgefunden. Die Schlacht von Stalingrad 1942 war für Stalin nicht ein Zeichen; das war doch der Anfang seines Sieges. Am Kreuz siegt der Schöpfer – durch die Hingabe seines einzigen, reinen Sohnes über das Recht des Feindes an uns Menschen. Nicht Zeichen, sondern Sieg. Das ist die Kernfrage in allen Karfreitagspredigten in der württembergischen Landeskirche. Das lehnt die Aufklärung ab, auch in der Kirche bis heute.

c) Die Aufklärung kennt nur den Fortschritt, nicht aber die Wiederkunft unseres Herrn in seiner verklärten Leiblichkeit.

d) Der Fortschrittsglaube kennt keine Weltmission. Matthäus 28 steht gegen die Aufklärung. Der Fortschrittsglaube auch in der Kirche heute kennt keine Weltmission. »Mission is out« (Mission ist vorbei), heißt es in Genf, bei der Genfer Ökumene wörtlich. »Mission« heißt heute fälschlich »Anwesenheit in den Befreiungsbewegungen« (wörtliches Zitat aus Genf); Mission ist »nur soziales Engagement«. Das soziale Engagement der Kirche ist nicht falsch, aber das Wörtchen »nur«. »Nur« Friede, Umwelt, politische und soziale Gerechtigkeit – das ist falsch. Dem können wir uns nicht anschließen. Wenn nicht die Weltmission zuerst kommt, ist das soziale Engagement falsch.

e) Die Aufklärung hat sich eine eigene Methode zur Auslegung der Heiligen Schrift geschaffen. Sie gründet (das kann ich hier nur andeuten) auf der Erkenntnistheorie von Immanuel Kant aus Königsberg. Ihr Ausgangspunkt heißt: Wirklich sein kann nur, was in der sichtbaren Welt feststellbar ist. Die Realität der unsichtbaren Gotteswelt und die Realität der unsichtbaren Finsterniswelt wird geleugnet. Fundamentale biblische Dinge werden daher abgelehnt: Es gibt keinen Teufel, keine Engel, keine Jungfrauengeburt, keinen Gang Jesu über das Meer, keine Sturmstillung, keine Auferweckung des Jünglings von Nain und des Lazarus und vor allem keine Auferweckung Jesu in die neue Leiblichkeit am ersten Ostermorgen. »Das ist nicht geschehen«, wird heute in unserer Landeskirche gesagt. Ich werde nie vergessen, wie in Halle 6 auf dem Killesberg beim Kirchentag 1969 in Stuttgart Prof. Manfred Mezger aus Mainz zweimal vor gewiss 10 000 Menschen gerufen hat: »Jesus wird nie wiederkommen!«

Ja, aber sie predigen doch darüber!? Freilich, aber biblische Geschichten sind für den Kritizismus nur »Deutungsgeschichten «, die nicht geschehen sind, sondern die nur eine Deutung sind. »Jesus ist auferstanden« – das wird so gedeutet: »Er lebt heute im Wort; das ist Auferstehung.« Und so ist alles eine Frage der Deutung. Biblische Geschichten sind für diese historisch-kritische Theologie Deutungsgeschichten ohne Realitätsinhalt. Mir sagte ein Pfarrer in Heidenheim, ein Märchen habe auch Wirklichkeitsgehalt, aber mehr nicht. Natürlich, aber die Bibel besteht nicht aus Märchen. »Christus ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden.«

Das ist also die historisch-kritische Auslegung der Bibel mit der existentialen Interpretation und der Entmythologisierung durch Rudolf Bultmann usw. Damit befindet sich der Pietismus im Glaubenskampf gegen die theologische und in der Kirche herrschende Aufklärung auch in Württemberg. Sie ist mitten in der Kirche, in der Genfer Ökumene, auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag. Die Gruppen »Evangelium und Kirche« und »Offene Kirche« bejahen den Kirchentag voll und ganz – damit wir dies beachten. Die Aufklärung in der Kirche – leidenschaftlich tut’s der Kirchentag.

Das ist also die Lage der Kirche, die Lage des Pietismus in der Kirchengemeinde. Es sind nur knappe Linien. Die müssten wir alle stark ausarbeiten und lebendig machen. Aber vielleicht verstehen Sie es, dass wir da mitten drin sind in einer Lage, wo gefragt wird: Gehören wir zu dieser Kirche?

4. Der dunkle Weg des deutschen Pietismus in der Kirche (nach Offenbarung 17) und Jesu letztes Ziel

»Die Kirche verweltlicht; sie bedient sich unheiliger Mittel für ihre Zwecke; sie lässt sich von den Mächten der Welt brauchen als Zaum und Zügel für die Völker. Sie straft nicht mehr die Sünden und die Sünder, sondern macht den Weg in den Himmel breit und bequem. Sie vergisst, dass die Welt für die Kirche gekreuzigt ist und buhlt um den Beifall der Welt, um ihre Ehre und Weisheit. Es gibt keine sichtbare Kirche oder Gemeinde in der Welt, die nicht von der Versuchung des Abfalls im Innersten bedroht ist.« So Karl Hartenstein (1948).

Mir erzählte ein junger Bruder, der einen Hauskreis hat, sie hätten ein Thema behandelt (normalerweise spricht man vom Text). Dabei wurde ein Vers vom Teufel im Neuen Testament vorgelesen. Da hätten alle gesagt: »Sei still! Vom Teufel wollen wir nichts hören, wir wollen nur Freude!« Das ist der Abfall! »Der Christ ist weder nur traurig noch nur freudig. Auf einem Auge ist er traurig, auf dem anderen freudig.« Das sagt Jesus wörtlich. Es gibt drei Stellen in der Bibel, die das bezeugen. Wir weinen bis zum Ende – bis ich im Sarg liege mit meiner Sünde –, und wir freuen uns an Jesus. Im Römer 6 sagt Paulus: »Schwärmer seid ihr, wenn ihr euch nicht schämt. Jetzt schämt euch.« Die Scham gehört zum Leben des wiedergeborenen Christen!

Wir schwäbischen Pietisten bleiben innerhalb dieser Kirche mit dem unverfälschten Zeugnis der biblischen Botschaft und werden in dieser Kirche bedrückt und getötet werden. Aber bis dahin bleiben wir in ihr. Ich kann Ihnen davon etwas erzählen im Bengel- Haus. Einem Menschen die Ehre zu nehmen, das ist schlimmer als enthauptet zu werden. Ich hätte lieber den Kopf hingelegt und gesagt: »Haut ihn ab«, aber mich in der Zeitung so ehrlos zu machen, in dem Tübinger Tagblatt. Da merken Sie, was »töten« heißt.

Wenn Jesus von seinem kommenden Leiden spricht – in den Leidensweissagungen –, so sagt er, er müsse verachtet, er müsse geschändet werden. Man hat Jesus erst die Ehre genommen, das war das Schwerste – der Kreuzestod war dann nicht mehr das Schwerste. Sehen Sie, das ist unser Weg als Pietismus: Nicht hochmütig sein, sondern um diese Kirche ringen; Zeugnis geben, aber leidend, nicht stumm! Er wird wiederkommen als »König aller Könige« und »Herr aller Herren« (siehe Offb 19,16). Jesus wird also als der letzte Politiker erscheinen. Dann wird die Kirche politisieren, wenn er wiederkommt! Da sind wir politisierend, denn dann ist Jesus der größte Politiker, der letzte Politiker auf dieser Erde. Zusammen mit dem erlösten Israel, mit seiner Gemeinde aus den Nationen werden wir dieses Reich erleben, da Jesus die Erde wieder schön machen, Umweltfragen klären wird – wir können’s nicht mehr. Er wird es machen. Wir müssen alles tun, den Frieden unterstützen, ganz klar, aber wir können es nicht mehr. Den Weltfrieden schaffen wir nicht. Wir schaffen ja auch nicht den Frieden in der Ehe. Wie viel Streit ist heute in der Ehe! Wenn in der Ehe Streit ist, wie will’s dann Weltfrieden geben? Das ist doch das gleiche. Jesus wird den Weltfrieden bringen, wenn die Erde erneuert ist.

Und dann kommt nach dem großen Weltgericht die zweite Schöpfung – »neuer Himmel, neue Erde«. Dann wird er selbst, der heilige und ewige Gott, »abwischen alle Tränen von unseren Augen«. Wir werden also weinend in der Ewigkeit ankommen, nicht jubelnd! Er wird dann die Tränen abwischen. Das ist die Botschaft der Bibel. Daran halten wir uns.

Sie fragen mich vielleicht: »Was ist unser Ziel?« Im Anschluss an das Wort eines großen Engländers sage ich: Unser ist der Sieg, der Sieg um jeden Preis. Der Sieg trotz aller Schrecken; es ist der Sieg, auf den wir zugehen. Wir sind Vertreter des Sieges. Deshalb sagt Jesus: »Erhebet eure Häupter!« Werdet stolze Menschen, wenn ihr seht, dass das bald geschieht – mitten in den Katastrophen, die ja kommen werden: Eine neue Menschenart. Mitten in der Katastrophe »erhobenen Hauptes«, weil wir vom Sieg wissen. Die einzige Frage ist nur die: Bin ich dabei? Sind Sie dabei?

Walter Tlach


(Aus: Was erwartet uns? Antworten von Konrad Eißler, David Jaffin, Heiko Krimmer, Bernhard Rebsch, Theo Sorg, Winrich Scheffbuch, Walter Tlach und Ernst Vatter, hrsg. David Jaffin,  Edition VLM im Verlag der St.-Johannis-Druckerei, Lahr-Dinglingen 1991, S. 72-82)